Ich habe damals in der Schule gelernt, dass bis zur Aufklärung die Menschen von der Erde als flache Scheibe ausgingen, und erst die Aufklärung habe uns von der wahren Gestalt unseres Planeten – wie der Name sagt – aufgeklärt. Kürzlich las ich in einem Kommentar auf Morgenwacht das folgende Interview aus GEO 02-2003, Seite 172. Die dort enthaltene Information war für mich neu. Wieder was Neues dazu gelernt.
Zu flach gedacht
Im Mittelalter glaubte man, dass die Erde eine Scheibe sei – oder doch nicht? Ein Bonner Professor weist das platte Weltbild als lange verbreiteten Mythos aus.
GEO: Herr Professor Simek, wie kommen Sie dazu, die Lehrmeinung anzuzweifeln, dass für die Menschen im Mittelalter die Erde flach gewesen sei?
Simek: Als ich meine Habilitationsschrift über „Altnordische Kosmographie“ schrieb, ging auch ich von dieser gängigen Überzeugung aus. Nur: Bei allem Bemühen fand ich keine einzige Quelle, nach der die Erde nicht als kugelrund galt. Das hieß: Entweder waren die zuweilen als rückständig verschrieenen Skandinavier der restlichen Welt weit voraus, oder etwas war faul an unserer Schulweisheit. Ich habe meine Studien dann ausgeweitet und festgestellt: Bis auf einige obskure mittelalterliche Autoren, die von Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts bewusst verunglimpft wurden um das „unaufgeklärte“ Mittelalter als borniert darzustellen, hat nie jemand ernsthaft daran gezweifelt, dass die Erde ein Ball ist.
Und warum hängen wir dann immer noch der Schulmeinung an?
Weil sich offenbar niemand die Mühe gemacht hat, die Originalquellen zu überprüfen. Seit etwa zehn Jahren gibt es aber mehreren Fachbereichen eine Reihe von Büchern, deren Verfasser demselben Schluss gekommen sind wie ich.
Aber es gibt doch zahlreiche Karten aus dem Mittelalter, welche die Erde als Scheibe darstellen?
Eben nicht. Dann können Sie genauso gut annehmen, dass wir uns Welt als Scheibe vorstellen, nur weil wir heute Nord- und Südhalbkugel auf planem Papier drucken. Auf den meisten Originalkarten des Mittelalters steht explizit dabei, dass man sich Ganze als Kugel vorstellen müsse. Der einzige Unterschied ist, dass man damals die gesamte Kugel auf einen einzigen Kreis projiziert während wir die beiden Hemisphären jeweils auf separate Kreise abtragen.
Woher wussten die Menschen damals von der Kugelgestalt?
Schon vor rund 2000 Jahren hat der römische Historiker Plinius einen empirischen Grund genannt: Wenn man am Strand steht, sieht man, wie ein Schiff langsam verschwindet, indem es scheinbar nach vorne abtaucht – ohne dass dies wirklich geschieht. Dieses Argument nimmt das einflussreiche Buch Liber de Sphaera des Engländers Johannes de Sacrobosco (John of Holywood) wieder auf, das aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt. Außerdem galt die Kugel schon seit Aristoteles als „ideale Gestalt“, weswegen etwa im achten Jahrhundert der Mönch Beda in seinem Buch De natura rerum darauf hinweist, dass die Erde nicht nur rund (rotunda) sei, sondern wie Ball (pila).
Galt diese Überzeugung auch für das gemeine Volk – oder nur bei einer Geisteselite?
Gerade Beda und Sacrobosco waren Autoritäten, deren Werke selbst einfachen Predigern bekannt waren. Gegner der Kugeltheorie, etwa der ägyptische Mönch Kosmas Indikopleustes aus dem sechsten Jahrhundert, waren fast unbekannt. Die erste Druckausgabe von Kosmas‘ Werk stammt aus dem 17. Jahrhundert. Ohnehin hat Kosmas nur auf Griechisch geschrieben; das hat insbesondere in der lateinischen Welt kaum Resonanz gefunden. Und selbst bei ihm ging die Diskussion weniger um Scheibe gegen Kugel. Er meinte aus religiöser Überzeugung, die Erde sei ein trapezförmiger Sockel, über dem sich der Himmel wie ein Altar erhebe. Das hat sonst niemand angenommen.
Aber es gab doch sicherlich etwas in der mittelalterlichen Kosmologie, was wesentlich verschieden von dem Modell der Neuzeit ist?
Man glaubte lange Zeit fest daran, dass die Erde den Mittelpunkt des Kosmos bildet. Das ist auch Kern des damals geltenden Ptolemäischen Weltbildes – was aber wohl gemerkt keine flache Erdoberfläche voraussetzt. Und man war der Meinung, man könne nicht auf die andere Seite der Welt gelangen, weil es am Äquator extrem heiß sei so wie es umgekehrt an den Polen zu kalt für Menschen ist. Daraus entbrannte der Streit, ob es auf der anderen Seite der Welt Menschen – so genannte Antipoden – geben könne oder nicht.
Fürchtete man nicht, auf der anderen Seite herunterzufallen?
Allem Anschein nach nicht. Man hatte zwar keine Definition der Schwerkraft, aber man wusste sehr wohl, dass sie wirkt. Das lässt sich leicht bei dem französischen Kardinal Pierre d’Ailly nachlesen, in seinem Werk Imago mundi aus dem 14. Jahrhundert.
Die Kirche hatte also keine Probleme mit dieser Weltsicht?
Offenbar nicht. Es gab nur diverse Anklagen im Disput um die Existenz von Antipoden – aber sogar für den Fall, dass man angeklagt wurde, konnte man noch Bischof werden; wie etwa der irische Mönch Virgil. Der eigentliche ideologische Grabenkrieg begann zur Zeit der Aufklärung: in jener Zeit legte man es darauf an, sich von Kirchen und Mönchstum abzugrenzen und die Mär zu verkünden, die Klosterbrüder hätten alle einen beschränkten Horizont besessen – passte das flache Weltbild besonders gut als Ironisiervorlage. Dabei waren es doch die Franziskaner-Mönche, die bis nach China gelangt waren. Wenn einer die Welt kannte, dann die Kleriker.
Weiterführendes Wissen:
https://de.linkfang.org/wiki/Flache_Erde
Die irrige moderne Annahme, dass insbesondere die mittelalterliche Christenheit an eine Erdscheibe geglaubt habe, wurde bereits 1945 von der Historical Association (of Britain) in eine Liste von zwanzig verbreiteten historischen Irrtümern unserer Tage aufgenommen. Im Folgenden werden vier Beispiele für die Verbreitung dieses Irrtums in Schul- und Sachbüchern nachgewiesen:
https://www.philso.uni-augsburg.de/institute/philosophie/Personen/Lehrbeauftragte/neidhart/Downloads/FaelschungenFlacherde0.pdf